Die höhnische Öffentlichkeit: Vom Fern-Sehen zum Nah-Kampf im Netz

Vortrag am Kunsthaus Dresden am 19. November 2010 [1]

Deniz Göktürk (University of California, Berkeley, Kulturwissenschaftliches Kolleg Konstanz)

In der interaktiven Ausstellung FEINDBILD 2.0 werden Zuschauer mobilisiert und nehmen teil an der Kunstproduktion. Sie können hier mit einem Stift an die Wände kritzeln oder das Gebäude in einem eigens entwickelten Computerspiel als Terrorist oder Terrorabwehrtruppe erkunden oder sogar das Kunsthaus virtuell in die Luft sprengen. Das Ziel ist, dynamischere Modelle der Kommunikation und Kollaboration zu imaginieren, als wir sie sonst im Museum und in der Medienöffentlichkeit gewohnt sind. Wie der Film Rip! A Remix Manifesto (2009) von Brett Gaylor demonstriert, stellen Strategien wie Mashup, Recycling und Sampling die den Copyright-Gesetzen zugrunde liegenden Kategorien von Autorenschaft, Genius und Originalität in Frage und betonen stattdessen Interaktion und Partizipation des Publikums. Wie der Ausstellung insgesamt geht es mir im Folgenden weniger um Fernsehen und Internet per se, als um Fragen der Gruppendynamik und Identifikation in medialen Zusammenhängen.

Das Thema Feindbild ist brandaktuell, sowohl im weltpolitischen Sinne, als auch in der innerdeutschen Debatte, die im Gefolge von Thilo Sarrazin das Thema Integration entdeckt hat.[2] Sarrazins abschätzige Bemerkung über Geburtenrate, Genetik und Intelligenz,[3] lebt von Hohn und xenophobischem Resentiment. Endlosen Talkshows im Fernsehen und zahlreichen Wortmeldungen im Internet nach zu schließen, kursieren solch kategorische Feindbilder breitenwirksam in vielen Köpfen. Vom Streit um die Mohammed-Karikaturen bis hin zur Kontroverse um den Moschee-Bau am Ground Zero in New York werden Konflikte heute vor einer überhitzten Weltöffentlichkeit ausgehandelt, die sich nicht mehr lokal oder national eingrenzen lässt. Das Bilder-Arsenal zirkuliert mit einer Geschwindigkeit, die herkömmlich geographische Konstellationen von Nähe und Ferne grundlegend in Frage stellt. Wir müssen also über Verortung und Entortung von Zuschauern und Bildern nachdenken. Wenn einer seine Feindseligkeit ins Netz stellt, weiß es unter Umständen sogleich die ganze Welt, mitunter mit tödlichen Folgen. Die diskursive, visuelle und virtuelle Konstruktion von Gruppenzugehörigkeit vis-à-vis “dem Fremden” muss daher genauer unter die Lupe genommen werden.

Das Motto von YouTube ist bekanntlich “Broadcast Yourself”; jeder Empfänger ist ein potentieller Sender – was übrigens Hans Magnus Enzensberger bereits 1970 für das Transistorradio konstatierte.[4] Aber wer partizipiert wirklich in den interaktiven Medien? Wer lacht mit wem über wen? Ist Humor in einer globalisierten Öffentlichkeit überhaupt denkbar? Und was sind intelligente Formen des Umgangs mit der “barbarischen” Bilderflut?[5]

Hier in Dresden wurde gerade der Deutsche Karikaturpreis vergeben; das preisgekrönte Bild “Kirche von hinten” – zu sehen im Fernsehen und im Internet – mag uns zur leichten Einstimmung auf das Thema Religion dienen. Proteste gab es, soviel ich weiss, noch keine.

Die Rezeption der dänischen Mohammed-Karikaturen verlief weniger zahm. Der meines Erachtens intelligenteste Beitrag in diesem Karikaturen-Streit stammt von einem Karikaturisten. In seinem Essay “Drawing Blood” (“Blut zeichnen” oder vielmehr “ziehen”), veröffentlicht im Juni 2006 in Harper’s Magazine, stellte Art Spiegelmann (der Autor des Comics Maus) eines klar: eine Karikatur ist in erster Linie eine Karikatur.[6] Das klingt einfach, geradezu banal, aber ist es das wirklich? Im Gefolge Spiegelmanns können wir Karikaturen als geladene Bilder beschreiben, die Ideen in einprägsame Ikonen, nämlich Klischees, verdichten. Eine Karikatur muss eine Pointe haben. Eine gute Karikatur kann unsere Sicht auf die Herrschaftsordnung verändern. Spiegelmann beginnt seine Diskussion mit klassischen Karrikaturen wie Honoré Daumiers Darstellung von König Louis-Philippe als Gargantua aus dem Jahr 1831 und George Grosz’ Attacke auf die “Stützen der Gesellschaft” als biertrinkende, flugblattlesende, hakenkreuztragende Männer ohne Gehirn (oder vielmehr Misthaufen statt Gehirn), entstanden 1926 in der Weimarer Republik.

George Grosz: „Stützen der Gesellschaft“ 1926

George Grosz: „Stützen der Gesellschaft“ 1926

Honoré Daumier: "König Louis-Philippe als Gargantua" 1831

Honoré Daumier: "König Louis-Philippe als Gargantua" 1831

Spiegelmann zollt diesen Karikaturisten Anerkennung als “Meistern der Unglimpfs”, die häufig für ihre Transgressionen vor Gericht oder im Gefängnis bezahlen mussten. Die Frage ist, ob die zwölf Karikaturen von Mohammed, die am 30. September 2005 in der dänischen Zeitschrift Jyllands-Posten erschienen, vereinbar sind mit dieser großen Tradition der Karikatur.

Sigmund Freuds Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) bietet noch heute ein Grundmodell für die Analyse der Dreiecksstruktur der Kommunikation und des aggressiven Potenzials von Humor:

Der tendenziöse Witz braucht im allgemeinen drei Personen, außer der, die den Witz macht, eine zweite, die zum Objekt der feindseligen oder sexuellen Aggression genommen wird, und eine dritte, an der sich die Absicht des Witzes, Lust zu erzeugen, erfüllt.[7]

Freuds Beschreibung der sozialen Dynamik um Witze impliziert folgende Fragen: Wer lacht mit wem über wen, und warum? Welche Bande werden geknüpft zwischen den Erzählern von Witzen und ihren Zuhörern? Wer ist die Zielscheibe der Attacke (auf Englisch: “butt of the joke”)? Wie funktioniert Gemeinschaftsbildung durch Feindbildbesetzung einer Gruppe und durch gemeinsames Abfließenlassen von Aggressionen? Welche verborgenen Aggressionen entladen sich – individuell und kollektiv – durch den Witz als Ventil? Und wie wird in dieser Dynamik, die von Einschluss und Ausschluss bestimmt ist, Rasse und Ethnizität zugeschrieben, inszeniert und ausagiert?

Wenn wir einen genaueren Blick auf die Jyllands-Posten Karikaturen werfen, ist nicht offensichtlich, wer hier verhöhnt wird: der Prophet Mohammed, militante Muslime oder die westlichen Medien. Zumindest drei dieser Karikaturen scheinen selbstreflexiv in dem Sinne, dass sie die Karikaturisten selbst zur Zielscheibe des Spotts machen und dies besonders in der Zeichnung von Lars Refn, wo der kleine Mohammed an der Valby Schule in einem Einwandererbezirk Kopenhagens auf eine in Farsi geschriebene Zeile auf der Tafel zeigt, deren Übersetzung in etwa lautet: “Die Journalisten von Jyllands-Posten sind ein Haufen reaktionärer Provokateure.” Er trägt eine Uniform des lokalen Fußballvereins “Frem” (was soviel heisst wie “Vorwärts”), aber mit dem Zusatz “Frem-Tiden” (“Die Zukunft”).

Lars Refn, Jyllands-Posten 2005

Lars Refn, Jyllands-Posten 2005

Auf Spiegelmanns Fatwa-Bomben-Messlatte wird diese Karikatur als “sauber” bewertet. Der Gebrauch von Farsi, einer Sprache, welche wohl die wenigsten Journalisten und Leser verstehen, kennzeichnet diese Kommunikation als einen Privatwitz unter Farsikundigen, was impliziert, dass das Klassenzimmer voll von solchen ist. Die freche Haltung des Kindes mit herausgestreckter Zunge widerlegt treffend zugeschriebene Identitäten auf der Grundlage sprachlicher Kennzeichnung und rassistischer Stereotypisierung. In einem dem Karikaturen-Streit gewidmeten Sonderheft von International Migration weist Erik Bleich darauf hin, dass dies “kein Bild des Propheten [sei … sondern] eines gewitzten Migrantenkindes, das schlau genug ist, den Medien eine Nase zu drehen”.[8] Interessanterweise, positioniert sich hier der Karikaturist selbst als unsichtbare Zielscheibe des Spottes. Vier der anderen Karikaturen repräsentieren den Propheten oder Muslime gängigen Stereotypen entsprechend als gewaltbereit, besonders in dem Bild, das den Kopf des Propheten als gezündete Bombe zeigt. Der Schöpfer des Bildes – Kurt Westergaard – wurde übrigens noch im September dieses Jahr für seinen Mut von Kanzlerin Angela Merkel geehrt, und am 14. November 2010 war im Ersten Deutschen Fernsehen Henryk M. Broder in Entweder BroderDie Deutschland-Safari auf solidarischem Besuch bei Westergaard zu sehen. Es scheint da ein Wiederholungszwang zu herrschen; die Verbündung mit dem Karikaturisten im Namen westlicher Demokratie und Meinungsfreiheit und in Absetzung von muslimischen Fundamentalisten dient gewissermaßen als gemeinschaftstiftendes Gruppenritual. Insgesamt ergibt sich jedoch kein einheitliches Modell der Kommunikation aus den in Jyllands-Posten veröffentlichten Karikaturen, was nicht weiter erstaunlich ist, da die zwölf Karikaturen von zwölf verschiedenen Karikaturisten gezeichnet sind. Auf den ersten Blick ist es schwierig, diese Bilder als Schmähung zu sehen, die Gewalt gegen Muslime anstiften soll.

Allerdings spricht Spiegelman in seinem Essay auch die entscheidende Frage nach dem Kontext an, wenn er die Effekte der Karikaturen in Beziehung zu anderen zirkulierenden Bildern über den Nahen Osten stellt. “Tatsächlich ist das Erstaunlichste an diesem ganzen Streit, dass die gewalttätigen Demonstrationen durch diese dämlichen Karikaturen ausgelöst wurden und nicht durch die entsetzlichen Bilder von Folter, die regelmäßig auf Al Jazeera und europäischen Fernsehkanälen zu sehen waren – überall, nur nicht in den Mainstream-Medien der Vereinigten Staaten”. Wenn wir das Ausmaß der Affaire bedenken –140 Menschen, die gewaltsam zu Tode kamen, gefeuerte Redakteure und Minister, Kaufboykotts, öffentliche Proteste, Fahnenverbrennungen –, dann ist es in der Tat schwer nachzuvollziehen, warum die Karikaturen soviel mehr Empörung auslösten, als die Veröffentlichung der Fotos aus dem Abu Ghraib Gefängnis Ende April 2004. Vielleicht war die Enthüllung missbrauchter Körper im Irak kein Skandalon mehr, da dort Geschichten von Übergriffen der Besatzungstruppen und Brutalität in Gefängnissen tagtäglich zirkulierten. Im Gegensatz dazu wurden die Karikaturen des Propheten als Angriff auf Glaubensangelegenheiten wahrgenommen, die den Muslimen heilig waren.

Um den Karikaturenstreit zu verstehen, der als “dänische Rushdie-Affaire” beschrieben worden ist, müssen wir sowohl über eine Textanalyse der Karikaturen, als auch über einen juristischen Ansatz mit Augenmerk auf Verfassungsrecht, Redefreiheit und Blasphemie hinausgehen. Angesichts der vielen Todesopfer unter Zivilisten im Irak sowie der Internierung und Misshandlung von Gefangenen in Abu Ghraib, Guantánamo Bay, Afghanistan und anderen Orten, hat die von den USA und dem westlichen Europa propagierte Rede von der Verteidigung der Demokratie und Redefreiheit gegem muslimische Fundamentalisten an Glaubwürdigkeit verloren. Die Karikaturen und andere visuelle Konstruktionen des Fremden werden demnach bedeutsam in einem kulturellen Kräftefeld, wo Samuel Huntingtons selbsterfüllende Prophezeiung vom “Kampf der Kulturen” zum Mantra der Weltpolitik geworden ist. Aber was genau tritt in dieser Kreuzzugsrhetorik zum Kampf an? Der Kampf der Kulturen wird nicht mehr zwischen Nationalstaaten geführt oder zwischen Nationalstaaten und bewaffneten Kämpfern, wie die Rede vom “Krieg gegen Terror” andeutet. Vielmehr sind wir heute Zuschauer eines Kampfes “emotionalisierter Öffentlichkeiten auf einer globalen Bühne. Jede Argumentation, die noch von einer einheitlichen, von einer nationalen Verfassung geregelten Öffentlichkeit ausgeht, greift daher zu kurz.

Der Karikaturenstreit war nicht einfach eine dänische Absonderlichkeit, erklärbar durch wachsende Fremdenfeindlichkeit gegen Einwanderer in jenem Land. Wären die Karikaturen in Dänemark nur einmal im September 2005 veröffentlicht worden, dann wären sie bald vergessen worden. Die Frage, ob die Karikaturen hätten veröffentlicht werden dürfen, ist hier zweitrangig. Wichtig ist: Die Affaire wurde erst sechs Monate später zum globalen Medienereignis, als Zeitungen in mehreren europäischen Ländern wie Norwegen, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland die Karikaturen unter dem Banner der Meinungsfreiheit wiederveröffentlichten und Berichte über die Kontroverse global auf BBC und CNN publiziert wurden. Muslime auf der ganzen Welt begriffen diese vorsätzlichen Wiederholungen als Beleidigung, Angriff und Entwürdigung im Sinne rassistischer Stereotypisierung. Die empörten Entgegnungen richteten sich nicht gegen die Karikaturen selbst (viele Demonstranten hatten sie gar nicht gesehen), sondern gegen die als arrogant und gewalttätig wahrgenommene westliche Repräsentation, die sich die Rhetorik von Demokratie und Freiheit zu eigen mache, um damit politische und ökonomische Machtinteressen zu verschleiern.

In ihren Reaktionen auf die Wiederveröffentlichungen der Karikaturen als globales Medienereignis entwickelten sich muslimische Proteste auch zur Demonstration einer hypermodernen globalen Gemeinschaft, die durch Mobiltelefone, Internet und Fernsehen informiert und vernetzt ist. Die Proteste waren politische Aktionen, deren Resonanz weit über die Grenzen von Staat und Staatsangehörigkeit hinausreichte. Die Frage stellt sich, wie Verantwortung in einer Weltöffentlichkeit zu fassen ist. Ob der Diskurs von internationalen Menschenrechten eine brauchbare Alternative und ein Korrektiv zum staatsgebundenen Verfassungsrecht darstellen kann, ist Gegenstand andauernder Diskussion.[9] Der türkische Minister für religiöse Angelegenheiten Ali Bardakoğlu, erklärte beispielsweise in einem Interview mit der BBC, die Karikaturen seien nicht nur respektlos, sondern stellten auch eine Verletzung der Menschenrechte dar.  Unterdessen stellte ein im selben Jahr in der Türkei produzierter reißerischer Politthriller, Kurtlar Vadisi Irak / Tal der Wölfe Irak (2006), bekannte Fotos aus dem Abu Ghraib Gefängnis filmisch nach, wie etwa das Bild von dem Haufen nackter menschlicher Körper, gewissermaßen als visuellen Beweis für die Brutalität amerikanischer Soldaten. Der universalisierende Diskurs von Menschenrechten steht nicht selten im Dienst partikulärer Interessen.

Kommen wir in diesem Zusammenhang auf die dänischen Karikaturen zurück, so erkennen wir, dass die Struktur der Kommunikation hier eine grundlegend andere ist als in Freuds Analyse des Witzes. Die Witze, über die Freud schrieb, wurden primär unter Juden erzählt, sozusagen “unter uns” innerhalb der Großfamilie. Der Erzähler des Witzes und sein Publikum waren Juden, ebenso die Zielscheibe des Spotts, meist ein “Ost-Jude” aus Galizien, der eine kultivierte Pose vorspiegelt, dessen wahre “Natur” jedoch letztlich unter dem Kostüm der Assimilation hervorbricht. Obgleich diese Witze häufig unterdrückte Aggressionen gegen wohlhabende Juden oder die Institution der Ehe ventilieren, haben sie doch in erster Linie gemeinschaftsstiftende Funktion. Das Erzählen von Witzen dient als Ventil, um Aggressionen innerhalb der Gruppe abfließen zu lassen und den Fortbestand der Beziehungen zu gewährleisten – so wie das Träumen den Träumer weiterschlafen lässt. Selbstverständlich bezog sich diese Dynamik innerhalb der sozialen Gruppe auch auf Stereotypen, die ausserhalb der Gruppe zirkulierten und eignete sich diese an. Anti-semitische Karikaturen sind die abwesende Folie zu Freuds Witzen. Die von Eduard Fuchs 1921 veröffentlichten gesammelten Karikaturen zeigen, dass die hasserfüllte bildliche Darstellung von Juden eine lange Geschichte hat, die bis ins Mittelalter zurückreicht.[10] Solch beleidigende Repräsentationen kulminierten später in den berüchtigten Karikaturen von Julius Streicher im Stürmer, grafischen Illustration der Nazi-Doktrin, die darauf aus sind, Vorurteile zu bestätigen und Hass zu schüren, und denen der von Freud beschriebene entschärfende Mechanismus der Witzarbeit eindeutig abgeht.

Der ausschlaggebende Unterschied zwischen den jüdischen Witzen, die Freuds Analyse zugrunde liegen, und den dänischen Karikaturen liegt darin, dass letztere Diffamierungen und Stereotypisierungen von ausserhalb der Gruppe vornehmen und damit ein Bündnis schmieden zwischen den Karikaturisten als Vertretern westlicher Medien und den Zeitungslesern zum “Wir” der aufgeklärten westlichen Öffentlichkeit auf Kosten von “Ihnen”, den obsessive gewalttätigen “Orientalen”. Im Zeitalter der Massenmedien bleibt allerdings kein Witz lange Privatsache. Ein Witz, der, öffentlich erzählt, anstössig sein könnte, mag hinter verschlossenen Türen unter Freunden akzeptabel sein. Die von Freud gesammelten Witze kamen der Zielscheibe nicht unbedingt zu Ohren, und wenn, dann konnten sie durch Selbstironie internalisiert werden (was vielleicht für Freud selbst der Fall war). Aber durch den rasanten Informationsfluss in einer vernetzten Öffentlichkeit gelangt ein Witz rasch zu seinem Objekt, ja die Zielscheiben beteiligen sich an der Produktion und Zirkulation von rassistischen Stereotypen in dem Bestreben, diese bloßzustellen. Die Wiederholung des Materials in einer globalisierten Öffentlichkeit konfiguriert neue Publika, in denen die Unterscheidung zwischen “uns” und “ihnen” unablässig von neuem in Kraft gesetzt und gelegentlich auch verflüssigt wird, wie in unserem Beispiel des gewitzten Einwandererkindes, das sich über die westlichen Medien lustig macht – dieser kleine Mohammed gehört ebenso sehr zu “uns” wie zu “ihnen”.
Ist Islamophobie der neue Antisemitismus? Gibt es Parallelen zwischen dem Rassismus der Mohammed-Karikaturen und dem Nazi-Gebrauch antisemitischer Karikaturen zu Propagandazwecken und zur Rechtfertigung von Völkermord? An dieser Stelle möchte ich noch einmal zu dem bereits erwähnten Harper’s Magazine vom Juni 2006 zurückkehren, dessen Umschlagzeichnung von Art Spiegelman: eine Karikatur von neun Charakteren mit überbetonten Rassenmerkmalen.

Harper’s Magazine Juni 2006 - Umschlagzeichnung von Art Spiegelman

Harper’s Magazine Juni 2006 - Umschlagzeichnung von Art Spiegelman

Da ist ein grossmündiger, rundäugiger “Schwarzer”, zwei Würfel neben seinem Kopf rollend; ein gierig blickender “Jude” mit großer Nase, den Mantel voller Dollarzeichen, sogar der Rauch seiner Zigarre in Form eines Dollarzeichens; ein kleiner “Chinese” mit zwei großen Schneidezähnen und breitem Grinsen; eine Pin-up Blondine, die Brustwarzen von zwei Streifen verdeckt, übrigens die einzige Frau in dem Ensemble; eine “Rothaut” mit Feder und Tomahawk; ein katholischer Priester mit Schweinchengesicht, der einen verängstigt blickenden Chorknaben angrabscht; ein “amerikanischer” Gangster wie aus einem Film Noir; ein “Mexikaner” mit Sombrero, Tequila und Pistole; und zu guter Letzt das Mittelstück, ein bösartig blickender “Araber”, mit Turban und Vollbart, ein wuchtiges Schwert in der Hand. Die Pointe dieser Karikatur liegt in der Versammlung all dieser kruder Typen auf einer Seite, verziert mit dicken Spritzern blutroter Farbe.

Dieses Nebeneinander leicht erkennbarer Klischéebilder stellt vorgefasste Identitätszuschreibungen bloß und mobilisiert Stereotypen, um sie zu entlarven. In seinem Essay druckte Spiegelman auch seinen Beitrag zu einem in Iran veranstalteten Karikaturenwettbewerb ab, welcher der Verleugnung des Holocaust gewidmet war sowie eine interessante jüdische Variation des Bombenkopfs aus einem israelischen Wettbewerb antisemitischer Karikaturen. Er beschloss seinen Essay mit einem Aufruf zu einem globalen Karikaturenwettbewerb, einer Art Weltbühne für Maskeraden und Enthüllung à la Sacha Baron Cohens Borat (2006).

Spiegelman scheint mir auf dem richtigen Weg mit seinem Ruf nach einem “weltklasse Gewinnspiel bitterer visueller Satire mit Haliburton-mäßigen Ausschüttungen! ” Er schlägt vor, “dass alle bewaffneten Kämpfer aus dem Nahen Osten hinausgeworfen werden, und träume davon, dass stattdessen Bataillonen von Karikaturisten per Hubschraubereinsatz aus allen Ecken der Welt eingeflogen werden! Zweifellos werden dabei Gefühle heftig verletzt, aber am Ende soll der Künstler mit der spitzesten Feder siegen.”

Zwar bin ich nicht sicher, ob ich soweit gehen würde wie der palestinensische Denker Bassam Jarar, der auf der Webseite von Al Jazeera zitiert wird und meint, dass der Karikaturenstreit “eine gute Lektion für Muslime und den Westen” sei und “längerfristig zu größerem Verständnis führen” werde. Ich glaube jedoch, dass in unserem Bestreben, uns in einer Weltöffentlichkeit zu bewegen, wir alle lernen müssen, unsere Gruppenzugehörigkeiten und Trennungen zwischen “wir” und “ihr”, “hier” und “dort” nicht für gegeben zu erachten, sondern immer wieder von neuem zu hinterfragen, Darstellung von uns selbst und anderen zu prüfen und Grenzen zu überdenken. In Zeiten des World Wide Webs, wo das Dreiecksverhältnis von Humor und Aggression vielfach multipliziert und repliziert wird, gilt das umsomehr: Jeder von uns kann jederzeit zum Erzähler, zum Zuhörer und zur Zielscheibe des Witzes werden – alles zur gleichen Zeit.

Sozialpsychologische Experimente zeigten Mechanismen gewalttätiger Gruppendynamik bereits in den 1950er Jahren.[11] So führte der Psychologe Muzaffer Sherif 1954 ein Ferienlager-Experiment mit elfjährigen Jungen im Robbers Cave National Park in Oklahoma durch. Das Experiment demonstriert, wie leicht exklusive Gruppenidentitäten gebildet werden und wie schnell die Gruppe Vorurteilen und Antagonismus gegenüber Aussenseitern verfällt, die Anderen diffamiert und mit Feindbildzeichnungen attackiert. Das Experiment, das als Vorbild für William Goldings Roman Lord of the Flies (1954) diente, verdeutlicht das universelle und zugleich arbiträre Potenzial von Gruppenbildung und Aggression.

Um den Hang zur exklusiven Gruppenbildung, aber auch Potenziale einer komischen Inszenierung solcher Mechanismen zu illustrieren, möchte ich mit einem Videoclip schließen, aus der intelligentesten Sendung, die das amerikanische Fernsehen derzeit zu bieten hat, der Daily Show mit Jon Stewart. Die parodistische Nachrichtensendung inszenierte am 19. August 2010 als Kommentar auf die Kontroverse um den Moscheen-Bau am Ground Zero in New York folgendes Gefecht, das auf der Webseite der Show zu finden ist: The Daily Show mit Jon Stewart, August 19, 2010: “Extremist Makeover – Team Mohammed vs. Team Jesus.”

The Daily Show With Jon Stewart Mon – Thurs 11p / 10c
Extremist Makeover – Team Mohammed vs. Team Jesus
www.thedailyshow.com
Daily Show Full Episodes Political Humor & Satire Blog The Daily Show on Facebook

In dieser Inszenierung der Dreiecksstruktur mit pointierter Anspielung auf das Verbot im Islam, Bildnisse des Proheten zu verbreiten, vereinigen sich die beiden Feindbilder am Ende gegen den Talkshow-Host. Die Ähnlichkeit ihrer T-Shirts korrespondiert mit dem Nebeneinander der beiden Thor Steinar und Storch Heinar Sweat-Shirts sowie der Hörproben rechter und linker Heavy Metal Musik in einem Raum in FEINDBILD 2.0. So kann eine Ausstellung von Feindbildern vielleicht Ähnlichkeiten sichtbar machen und die Fronten aufmischen.

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[1] Eine frührere englischsprachige Fassung erschien als “Jokes and Butts: Can We Imagine Humor in a Global Public Sphere?” PMLA, Vol. 123, No. 5 (October 2008): 1707-1711. http://www.mlajournals.org/toc/pmla/2008/123/5
[2] Tatsächlich haben die Debatten zu Migration und Integration eine lange Geschichte. Siehe Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl (Hg.). Transit Deutschland: Debatten zu Nation und Migration. Konstanz: Konstanz University Press/Fink Verlag, 2011.
[3] “Thilo Sarrazin im Gespräch: Klasse statt Masse.” Lettre International, Heft 86 (September 2009), S. 197-201.
[4] Enzensberger, Hans Magnus. “Baukasten zu einer Theorie der Medien.” In: Kursbuch 20 (1970), S. 159-186.
[5] Banta, Martha. Barbaric Intercourse. Caricature and the Culture of Conduct, 1841-1936. Chicago: The University of Chicago Press, 2003.
[6] Spiegelman, Art. “Drawing Blood.” Harper’s Magazine. June 2006, S. 44-51.
[7] Freud, Sigmund. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Frankfurt am Main: Fischer, 1961.
[8] Bleich, Erik. “On Democratic Integration and Free Speech: Response to Tariq Modood and Randall Hansen.” The Danish Cartoon Affair: Free Speech, Racism, Islamism, and Integration. Sonderheft International Migration 44.5 (2006): 17-22.
[9] Cheah, Pheng. Inhuman Conditions: On Cosmopolitanism and Human Rights. Cambridge: Harvard University Press, 2007.
[10] Fuchs, Eduard. Die Juden in der Karikatur: Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. München: Langen, 1921.
[11] Für diesen Hinweis danke ich Pradeep Chakarath (Ruhr-Universität Bochum).