Verkörperungen und Verletzungen

Handelt es sich bei der Brutalisierung und Pornografisierung tatsächlich um ein Phänomen der neuen, digitalen Kommunikation?

Explizite Körper- und Gewaltdarstellungen haben in der Kunstgeschichte eine lange Tradition. Die Schrecken des Krieges, die berühmte, Anfang des 19. Jahrhunderts entstandene Folge von 82 Radierungen des spanischen Malers Francisco de Goya schilderte in drastischen Bildern die Gräueltaten der napoleonischen Besatzungsmacht im Kampf mit der aufständischen, spanischen Bevölkerung. Goya bezog in dieser Reihe nicht Stellung für oder gegen eine der kämpfenden Parteien, seine Darstellungen sollten alle Menschen aufrütteln gegen die Kriegsgewalt. Frühere und spätere Kriegs- oder Gewaltdarstellungen der Kunstgeschichte ergriffen jedoch meist Partei und verfolgten bestimmte Interessen in realen Auseinandersetzungen.
Die Gewalt in heutigen Computerspielen und Spielfilmen dient schließlich einer scheinbar zweckfreien Unterhaltung und kann daher zynisch anmuten.

Gewaltdarstellungen beziehen sich jedoch längst nicht immer auf bestimmte Taten und Täter, die es anzuprangern oder zu verdammen (oder umgekehrt, zu legitimieren und zu glorifizieren) gilt. Gerade in der abendländischen, christlichen Bilder- und Kunstgeschichte hat sich die Opferung, der geschundene Körper und ein zur Schau stellen von Wundmalen immer als zentrales Motiv angeboten und diese Bilder führten mehrfach zur einer Wende grundlegender Verständnis- und Betrachtungsweisen. Die Renaissance beispielsweise wurde eingeleitet unter dem Eindruck einer Pandemie, die in Europa von 1347 bis 1353 ein Drittel der Bevölkerung wegraffte. Die Tragödie führte zum Kollabieren der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung und sollte eine andere Umgangsweise auch hinsichtlich der Menschen und ihren Körpern zur Folge haben. Die anatomischen und medizinischen Studien, lange Zeit verpönt, wurden von Papst Klemens VI unter dem Eindruck des Massensterbens nunmehr angeordnet. Zeitgleich fanden Flagellanten in der Züchtigung und Selbstgeisselung ihres Körpers das Überwinden der eigenen, fleischlichen und menschlichen Fehlbarkeiten und eine Teilhabe am Leiden Christi. Der menschliche Körper war als Träger und Objekt des Lebens erkannt worden, wurde vermaßt und inspiziert und mit dieser Sicht auf den Körper trat eine atemberaubende (Re)Präsentation in Erscheinung: die neue Form von Tafelbild und Standbild der Renaissance.
Auf den eindrücklichsten Bildern dieser Epoche wird weniger die Unversehrtheit inszeniert, als vielmehr jener Gegensatz zur intakten Oberfläche: der Einschnitt, die Wunde. Als Kontrast bringen sie nicht nur die Körperoberfläche sondern auch die menschliche Verletzbarkeit zur Darstellung und gewähren gar physische Einsichten. Der verwundete Körper wird zum mitreissenden Anschauungsgegenstand. Das Christliche Motiv, demgemäß die Menschwerdung eine Leidensgeschichte ist, scheint in der visuellen Ausformung abendländischer Kunstgeschichte ihren Wiederhall zu finden. Eine direkte Konfrontation mit dem Körper und die gleichzeitige Überwindung in einer Unsterblichkeit wird eindrücklich in Caravaggios Bild des ungläubigen Thomas deutlich. Thomas starrt in die Wunde Jesu und fasst hinein in die Bildtiefe. Das, was nicht erlebbar und schon gar nicht überlebbar ist, gerät zur Lebendigkeit in der Abbildung – das Bild wird Bedeutungsträger übernatürlicher Vorstellungen, die Einlösung göttlicher Wunder.
Das Prekäre der physischen Präsenz, die Bedingtheit eines Darunter- oder Hineinschauens und die Relevanz einer Oberfläche, all dies weist auch auf die materielle Beschaffenheit des Bildes selbst. Was nicht gesehen werden kann, kann hier sichtbar werden, doch nicht als substanzielle oder materielle Erfüllung, sondern als ein Bild, dessen Zustimmung immer auf den Willen der Betrachtenden zurückgeht, auf den Willen, diese bildliche Illusion anzuerkennen. Das Bild macht vorstellbar, aber ist trotzdem nicht ein Nachweis, und somit wird in einem religiösen Kontext nicht der Glaube selbst durch einen bildlichen Nachweis abgelöst, sondern der Wille zum Glauben (an das Dargestellte) wird befördert durch das Bild und dieser Wille wird zugleich auch präsent. Die Bilder entmündigen uns nicht, sondern sie weisen uns auf die Verdoppelung des Sehens und Reflektieren: die Sichtbarkeit, die Sprache, die Darstellungsweise und der Wille zur Illusion und zur Teilhabe an einer Imagination wird durch das Bild präsent.

Mit digitalen Kommunikationsmöglichkeiten werden grundlegende Fragen der Repräsentation und der Selbstdarstellung nochmals neu gestellt. Lassen uns Bilder gegen Gewalt abstumpfen? Wen schmerzen welche Bilder, wo wirken gewaltige Bilder emanzipativ? Eine Flut von Bildern, in denen sich die Menschen selbst inszenieren – von den Urlaubsfotos bis hin zur Präsentation eigener Nacktheit – zeugt vom ungebrochenen Bedürfnis einer Anschauung des Körpers. Wunden und zur Schau gestellte Selbstverstümmelungen sind zu finden, die jene Traditionen historischer Körperdarstellungen in beunruhigender Weise in die Gegenwart zu überführen scheinen und neue Debatten entfachen. Im Jahr 2002 wurde die Webseite BMEzine, eine Plattform für Anhänger von Körpermodifikationen, in Deutschland für rechtswidrig erklärt und diese Webseite ist seitdem nicht mehr über deutsche Suchmaschinen verfügbar. Auch wenn sich die Entstehungen und die Funktionen der Bilder unterscheiden, lässt sich oft nur schwer sagen, welche Bilder die grausameren Darstellungen zeigen – die Meisterwerke der Kunstgeschichte oder deren heutiges, digitales Gegenüber. Befremdend sind die inszenierten Selbstdarstellungen, in denen sich Menschen an den Körpern zu schaffen machen, als suchten sie nach einem Selbst und einer Konkretion der eigenen Körperlichkeit – als suchten sie jene Wahrhaftigkeit und Einzigartigkeit, die den Verlust an Haptik und physischer Gegenwärtigkeit in der digitalen Informationsgesellschaft in ergreifender Weise durchbricht.

free content
copy!!! remix!!! share!!!